„ Du wirst dein Leben lang fixe Regeln und Strukturen brauchen, um mit deiner Essstörung leben zu können. Einmal essgestört, immer essgestört.“ Da ist nur einer dieser Gesprächsfetzen aus der Zeit, in der ich in verschiedenen Kliniken zur Behandlungen meiner Essstörung war. Vieles, was ich dort gehört, und erlebt habe, hat tiefe Wurzeln in mir geschlagen und es hat sehr lange gebraucht, um mich davon zu lösen und meinen eigenen Weg sehen und gehen zu können. Ich glaube, dass mir die Kliniken durchaus mehrmals sehr geholfen haben. Vor allem für meine körperliche Stabilisierung waren sie eine riesige Unterstützung. Aber ich konnte dort trotzdem nie die Impulse bekommen, die ich gebraucht habe, um mich von dieser Krankheit zu lösen.

Etwas, das mir rückblickend besonders unnatürlich vorkommt sind all die Regeln, die fixen Pläne und die stets vorherrschende Kontrolle. Das Gewicht, das Essen, der Alltag – alles ist bis ins letzte Detail durchstrukturiert. Was als Erleichterung dienen soll und mit der Intention geschaffen wurde, den essgestörten Patienten damit zu helfen, läuft meiner Meinung nach leider auch Gefahr, sie von sich selbst und all diesen Themen, mit denen eine Auseinandersetzung so wichtig, wenn auch schmerzhaft ist, zu entfremden. Ich musste zwar nicht tagtäglich mit mir selbst verhandeln, ob ich nun essen durfte oder nicht, geschweige denn, was ich essen durfte und hatte auch nicht den quälenden Leerlauf, der die Tage zuhause ohne den kontrollierten Klinikalltag oft so schwer gemacht hatte, aber ich hatte auch keine Möglichkeit, mich selbst zu spüren und herauszufinden, was ich mochte und was mir wichtig war.

In der Klinik war man davon überzeugt, dass wir das Essen wieder lernen mussten. Wie Fahrradfahren. Ich in auch jetzt der festen Überzeugung, dass wir alle dieses Wissen auch während einer Essstörung in uns tragen und es sich nur ziemlich gut hinter falschen Glaubenssätzen, schmerzhaften Erinnerungen und vielleicht auch irrsinnigen Überzeugungen in unserer Gesellschaft was Schönheit betrifft versteckt. Es geht meiner Meinung aber nicht darum, das Essen wiederzulernen, sondern vielmehr, wieder in Kontakt mit sich selbst zu treten. Eine Verbindung zu all dem Schmerz aufzunehmen, der einen daran hindert, sich selbst gut zu versorgen und diese drückende Last schließlich loszulassen. Bei mir ging es nie darum, dass ich nicht essen konnte. Ich wusste wahrscheinlich sehr viel mehr über Ernährung, als die meisten anderen Menschen oder Jugendliche in meinem Alter. Vielmehr ging es darum, dass ich es mir nicht erlaubte, mich zu nähren und dadurch auch am Leben zu sein. Und genau da bot sich die Stelle, an der ich meinen Weg aus der Essstörung eigentlich beginnen musste.

Wenn alles bis ins kleinste Detail geplant ist und kein Raum für eigene Gedanken und Verhandlungen mit den inneren Zweifeln und Ängsten ist, ist vieles scheinbar einfacher. Als ich diesen Weg selbst und ohne Klinikplan ging, war so viel Unsicherheit in mir. So oft wusste ich nicht, was ich tun sollte und es war ein ständiges Ausprobieren, Scheitern, Aufstehen, Verzweifeln, Weitergehen und Siegen. Einfach war es sicher nicht, aber gleichzeitig auch so heilsam und wunderschön, Entscheidungen aus meinem Herzen zu treffen und diesen Weg in meinem Tempo manchmal schleichend langsam und dann wieder in schnellem Laufschritt zu gehen. Mein Weg aus der Essstörung war zielstrebig und klar aber sicher nicht linear, wie er es vielleicht in einer Klinik gewesen wäre. Aber jeden Schritt, den ich aus dieser Krankheit gegangen bin, passierte aus eigener Kraft und Überzeugung und genau diese Erfahrung gibt mir so viel Sicherheit und Vertrauen in mich selbst. Es geschah so oft, dass ich aus der klinik entlassen wurde und wieder rückfällig wurde.

Dieses Mal bin ich diesen Weg für immer gegangen. Weil ich in den Schmerz gegangen bin und kein Regelwerk über meine Verletzungen gelegt habe. Ich habe, die Ruine, die ich gefühlt war, von Grund auf wieder neu aufgebaut und nicht ein Gerüst darum gebaut, damit die wackelnden Überreste nicht komplett einstürzten. Das sind sicherlich nur meine Gedanken und meine Erfahrungen aber auf diesem Weg habe ich so viel Freiheit gewonnen, dass ich der festen Überzeugung bin, dass jeder wieder ganz frei und gesund sein kann. Durch das Hinsehen, durch den Schmerz und die Angst geht der Weg in die Freiheit. Alles was da ist und alles was eine Seele so sehr quält, dass die Verbindung zum Körper so schwach ist und man sich selbst nicht mehr nähren kann, kann sich auflösen und heilen. Einmal essgestört, immer essgestört? Ich weiß, dass das nicht so ist und diese Krankheit kein Schicksal ist. Es ist eine Chance, sich selbst zu heilen. Ein Symptom, das dazu aufruft, innezuhalten, zu fühlen, losulassen und frei zu werden. Ich bin heute frei, nicht weil ich besonders bin, oder Glück hatte, sondern weil ich auf mich selbst gehört habe und mein eigenes Leid nicht länger verdrängt, sondern angenommen und damit gearbeitet habe. Und das kann jeder von uns!
